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Titel
Gespenstische Souveränität. Zur politischen Einbildungskraft zwischen 1910 und 1920


Autor(en)
Haselbeck, Sebastian
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Kohlrausch, Katholieke Universiteit Leuven

Sebastian Haselbecks originelle Studie zum Denken politischer Souveränität im Schlüsseljahrzehnt nach 1910 öffnet eine neue Perspektive auf das Ende der Monarchie in Deutschland und Österreich-Ungarn und dessen Nachwirkungen. Haselbeck löst sich dabei von der Zäsur November 1918, indem er mit dem Verfassungsrechtler Hugo Preuß die Idee des Kaisertums als Schema begreift. Als Vorstellung sei dieses Schema auf „politische Einbildungskraft“ angewiesen. Mit dem Präzedenzfall der Französischen Revolution und dem Königstod von 1793 wird für ihn eine problematische, „unberechenbare“ Souveränität zur zentralen politischen Frage. Dies ist, aufbauend auf Überlegungen Michel Foucaults, der Grundgedanke der Arbeit. In den fortbestehenden bzw. restaurierten Monarchien in Deutschland und Österreich haftet der Institution Monarchie von nun an etwas „Gespenstisches“ an. Sie ist nicht mehr an konkrete Körper rückgebunden. Gespenstisch sind in diesem Sinne, so Haselbeck, auch die von ihm untersuchten Monarchien der Habsburger und Hohenzollern vor ihrem Ende im staatsrechtlichen Sinne. Für die Jahre unmittelbar vor und nach deren Ende analysiert Haselbeck den Wandel von Repräsentationsformen und Souveränitätsvorstellungen. Dies geschieht auf breiter kulturwissenschaftlicher Materialbasis: früher Film, Literatur, kulturelle Artefakte. Gegliedert ist die Arbeit in vier Fallstudien:

Die erste Studie geht von einer Glosse des Schriftstellers Berthold Viertel aus, die angesichts eines Besuchs einer Filmvorführung durch die beiden Kaiser Franz Joseph I. und Wilhelm II. in Wien das „furchtbare Doppelgängertum der Repräsentation“ thematisiert: Gegenstand der gezeigten Filme waren die Kaiser bei der Jagd. Anschließend an eine Auseinandersetzung mit Shakespeares Richard II. und dessen Interpretation durch Ernst Kantorowicz – „the tragedy of King Richard II is the tragedy of the King’s two bodies“ – interpretiert Haselbeck die von Viertel verfremdete Filmvorführung als Auseinandersetzung mit dem Problem von sterblichen und unsterblichen politischen Körpern. Was bei Richard II. der zerbrochene Spiegel als Reaktion auf das im Spiegel realisierte Auseinanderbrechen der Dualität der zwei Körper des Königs ist, also die eigentliche Realisierung der Abdankung, wird in der Kinosituation potenziert und erreicht so eine neue, moderne Dimension, wie Haselbeck zeigt. Das Doppelgängertum der Monarchen wird erweitert durch die Zuschauer im Kino, die die Monarchen beim Zuschauen beobachten und gleichzeitig das Publikum, das auf der Leinwand gezeigt wird. Die „Verdoppelungsfiktion“, die Kantorowicz herausgearbeitet hat, wird hier noch einmal verdoppelt, aber damit auch die Frage aufgeworfen, wo Repräsentation beginnt und endet und was Repräsentation in der Moderne überhaupt noch bedeuten kann. Vorgeführt werden in diesem Sinne auch die Mechanismen der Desintegration monarchischer Repräsentation. Der Film als Medium etabliert durch unendliche Wiederholungsmöglichkeiten eine neue Form der Zeitlichkeit und trägt, verstärkt durch den Transfer des Politischen in die Unterhaltungssphäre, zum Zersetzen der „auratischen Qualität der Kaiserkrone“ (S. 39) bei.

Eine andere Form der Zeitlichkeit thematisiert die zweite Fallstudie, vornehmlich zu Kafkas Text „Beim Bau der chinesischen Mauer“, verfasst kurz nach dem Tod des österreichischen Kaisers Franz Joseph I., in dem ein abwesender chinesischer Kaiser die zentrale Figur ist. Haselbeck bezieht die literarische Verarbeitung eines zeitlosen China auf die Schwellensituation im habsburgischen Kaiserreich, aber auch die Hinrichtung des Zaren 1918. In Österreich ist die Monarchie bereits anachronistisch, während sie staatsrechtlich noch fortdauert. Kafkas Fragment gebliebener dramatischer Text „Der Gruftwächter“ dient Haselbeck dazu, die für einen Zeitgenossen wie Kafka bereits überdeutliche „Irrationalität institutioneller Mechanismen, die als ‚notwendig‘ gelten“ (105) vorzuführen, lange bevor das eigentümliche habsburgische Klopfzeremoniell 2011 noch ein letztes Mal bei der Beisetzung Otto von Habsburgs in der Kapuzinergruft zu erleben war. In der Erfahrungswelt des späten Habsburgreiches ist die noch existierende Monarchie bereits eine vergangene Staatsform. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die neben der Krise der Monarchie auch die Auflösung (national)staatlicher Souveränität bringt, verstärkt diesen Effekt und schließt nun auch die Frage ein, was die Nation als Gemeinschaft noch bedeuten kann.

Die dritte Fallstudie zum „ausgenagelten Hindenburg“ nimmt das Verhältnis von Souveränität und – nationaler – Gemeinschaft näher in den Blick. Eine während des Ersten Weltkrieges im Berliner Tiergarten aufgestellte hölzerne Hindenburgstatue erlaubte es durch „Nagelungen“, also das Eintreiben von zuvor gegen eine Spende erworbenen Nägeln in die Statue, Berlinern den populären Hindenburgkult zum Ausdruck zu bringen und so politische Gemeinschaft darzustellen. Diese Gemeinschaft ist allerdings, wie Haselbeck argumentiert, die „Aufrichtung und Zerstörung eines Ersatzkaisers“ und letzterer ein „kurzlebiger monumentaler Souverän der Kriegsgemeinschaft“ (S. 136). Wie Haselbeck ausführt, hatte Stefan George 1917 den von ihm eher nüchtern geschilderten Hindenburg durch eine negative Zeichnung der Hohenzollern als „Theaterkaisern mit ‚Bühnenkronen‘“ Substanz zugebilligt. Vor allem aber beruft Haselbeck sich auf einen Text Hugo Balls, der die Nagelung zur „anarchisch ikonoklastische[n] Volkssouveränität“ (S. 179) verfremdet und umgedeutet hatte.

Die „charismatische Augenblicksfigur“ Hindenburg bildet den Übergang zur abschließenden vierten Fallstudie, die Max Webers bekannte Ausführungen zu charismatischer Herrschaft und in diesem Zusammenhang Webers weniger bekannte Figur des „genialen Seeräubers“ im Kontext des Staatsformwechsels von 1918 diskutiert. Im Epilog „Der Souverän geht schwimmen“ zum notorischen Titel der Berliner Illustrirten Zeitung mit den Politikern Gustav Noske und Friedrich Ebert in Badehosen von 1919 wird – anstelle eines Schlusses – das demokratische Erbe von Haselbecks Gegenstand ausblicksartig in der Perspektive der Demokratisierung der politischen Repräsentation behandelt.

Die den vier Fallstudien zugrunde liegenden Beispiele sind an sich bekannt und zuvor behandelt worden. Haselbecks Leistung besteht in jedem Fallbeispiel in einer für sich genommen originellen Neulektüre und kritischen Rekonstruktion. Haselbeck ist ungemein belesen und seine Analysen bestechen durch Tiefgang und überzeugende Einbettung in einem äußerst dichten Verweissystem. Die vier Studien sind durch vielfältige Bezüge miteinander verwoben und bilden daher ein Ganzes. Auf diese Weise zieht Haselbeck konsequent die Ebene „politische Einbildungskraft“ in unser Verständnis der Transformationsperiode zwischen der Jahrhundertwende und den 1920er-Jahren ein. Überhaupt lässt es diese Ebene zu, diese durch die politischen Zäsuren von 1914, 1918 und 1919 so scharf geschiedene Periode als etwas Zusammenhängendes zu erfassen.

Wer eine klassische Studie zur Idee der Souveränität um 1900 erwartet, wird manchen Gedankengang ungewohnt finden und vielleicht nicht immer in einem engeren historischen Sinne relevant. Haselbecks Zugang ist aber zweifellos sehr bereichernd. Gerade auch mit Blick auf die intensiven Debatten der letzten Jahre, die sich an den Restitutionsforderungen der Hohenzollern entzündeten, aber ausweislich ihrer Intensität auch an das politische Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft rührten, weist die Studie über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus.

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